Schwerpunkte und Unterschiede in der praktischen Arbeit mit Kultmitgliedern und -aussteigern
Am Beispiel von hineingeborenen Mitgliedern – Von Dieter Rohmann
Die Sektenkinder von Lonnerstadt und die der „12 Stämme“
Ausgelöst durch einen WDR-Beitrag im Oktober 2012 in „Menschen hautnah“ über die „Sektenkinder von Lonnerstadt“ ging eine Entrüstung durchs Land. Über 2030 Personen tauschten sich bisher dazu auf Facebook aus, organisierten Mahnwachen vor dem Haus der Kinder und dem des Gurus, stellten Petitionen an den zuständigen Landrat und das dortige Jugendamt. Mehrere TV-Beiträge und viele Zeitungsberichte folgten. Ein familienpsychologisches Gutachten wurde Ende 2012 in Auftrag gegeben um zu prüfen, ob tatsächlich eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Das Resultat dieser Begutachtung führte schließlich im Juli 2013 dazu, dass die 3 Kinder vom Jugendamt in Obhut genommen und dass das Sorgerecht der Eltern eingeschränkt wurde. Seitdem sind die Kinder in einem Heim remduntergebracht. Im März 2014 durfte ich in diesem Heim eine Fortbildung zum Thema „Sektenkinder“ geben. Durch diese Inobhutnahme wurden die Kinder endlich aus dem Einflussbereich des Gurus entfernt. Die dem Guru nach wie vor ergebenen Eltern dürfen ihre Kinder im Heim regelmäßig besuchen und in der Zwischenzeit durften die Kinder auch wieder Wochenenden bei den Eltern verbringen. Das ist bisher leider nicht wirklich bei und mit den Großeltern der Kinder gelungen, die den Kontakt natürlich intensiv suchen. Die Kindsmutter scheint sich vom Guru etwas distanziert zu haben und arbeitet wieder als Lehrerin. Der Kindsvater leistet dem Guru allerdings absoluten Gehorsam. Und das obwohl der Guru und dessen Lebensgefährtin im August 2014 vom Landgericht Nürnberg/Fürth wegen Misshandlung Schutzbefohlener zu 3 Jahren Haft verurteilt wurde. Der Guru und dessen Partnerin legten nun Revision ein.
Durch das mutige Engagement eines investigativen Journalisten, der undercover in der emeinschaft der „12 Stämme“ recherchierte, konnte schließlich der Vorwurf der Kindesmisshandlung belegt werden. Der „RTL-Extra“ Beitrag vom September 2013 führte zur Inobhutnahme von ca. 40 Kindern und dem Entzug der Sorgerechts der Eltern. Schon im Vorfeld dieser groß angelegten Aktion wurden Pflegefamilien und Heime für die Aufnahme dieser Kinder organisiert.
Die Gründer der deutschen Gemeinschaft der „12 Stämme“ begegneten mir erstmals 1979 in Winnenden bei Stuttgart. Von Baden Württemberg zogen sie später, auf der Suche nach einem geeigneten Wohn- und Lebensraum, nach Sus in Südfrankreich, dem sog. „Tabithas Place“. Dort schleuste ich mich im Oktober 1986 für einige Tage (im Auftrag betroffener und besorgter Eltern) unter Vortäuschung falscher Absichten ein, um mehr über die Hintergründe dieser urchristlich-fundamentalistischen Gemeinschaft herauszufinden. Die Kinder denen ich damals in Sus begegnete sind heute die Eltern deren Kinder 2013 in Obhut genommen wurden. Einige der nun ausgestiegenen Eltern nehmen in der Zwischenzeit Beratungsgespräche bei mir wahr.
„Die Toleranz auf Artikel 4 GG ist nicht grenzenlos. Eltern haben nicht das Recht, das Kind zum Instrument und Objekt ihrer religiösen Überzeugung zu machen unter grober Beschneidung von dessen Entwicklungschancen. Dies gilt auch für Sekten, welche die Persönlichkeitsentfaltung der Kinder schon konzeptionell beeinträchtigen.“ (J.v. Staudinger, 1996)
Das Wohl und die Rechte von Kindern dürfen sicherlich nicht da aufhören, wo Religionsfreiheit beginnt. Dennoch scheint es nach wie vor sehr schwer festzumachen, wo und ab wann eine Gefährdung des Kindeswohls in neureligiösen Gemeinschaften vorliegt.
Erfahrungen in der Arbeit mit hineingeborenen Kultmitgliedern
Menschen, die sich aufgrund eigener Erfahrungen und Lebensereignisse einer sog. Sekte, einem Kult anschließen, sind gegenüber Hineingeborenen deutlich im Vorteil. Denn sie können bei einem event. Ausstieg auf viele Jahre gelebtes Leben vor dem Kult zurückgreifen. D.h. sie haben sowohl im, als auch nach dem Kult kognitive Vergleichsmöglichkeiten und Erfahrungen, die hilfreich sein können. Einem Hineingeborenen fehlt diese Möglichkeit in hohem Maße, weil dieser ausschließlich im Kultkontext sozialisiert wurde.
Es gibt wohl kaum eine dieser religiös/spirituellen Wertegemeinschaften, die es ihren Kindern erlaubt, mit anderen (ungläubigen) Gleichaltrigen zu spielen, am Vereinsleben teilzunehmen oder gar Freundschaften mit ihnen zu schließen. Hier stellt sich natürlich die Frage, wie diese Kinder dann soziale Kompetenz erwerben sollen. Hineingeborene Aussteiger müssen deshalb vieles – was für uns selbstverständlich ist – von Grund auf neu lernen. Sie haben im Kult z.B. nicht gelernt, mit Konflikten umzugehen, können nicht streiten und wissen häufig nicht, wie man Kontakt zu anderen Menschen aufnimmt oder gar Freundschaften schließt. Sie haben Angst davor, Fehler zu machen, scheuen das Risiko, fühlen sich häufig fehl am Platz und sind permanent damit beschäftigt, „alles richtig zu machen“.
Selbstwert in sog. „Sekten“ und Kulten
Nach meiner Beobachtung liegen viele Gründe für die besonderen Probleme von hineingeborenen Aussteigern schlichtweg im nicht oder kaum vorhandenen Selbstwert.
In der Regel wird das Selbstwertgefühl gefördert, wenn man Erfolg internal und Misserfolg external attribuiert, bzw. eine Mischung aus beidem zulässt (Lokation der Kontrolle, Rotter (1966)).
In sog. Sekten ist eine gesunde und stabile Entwicklung von Selbstwert deshalb kaum möglich, weil Erfolg generell external und Misserfolg permanent internal attribuiert wird. Hier wird persönlicher Erfolg meist mit der Gnade/dem Willen eines Gottes, z.B. Jehova, einer Wesenheit, energetischer Fügung, Schicksal etc. erklärt. Also external – außerhalb meiner Selbst. Alles andere würde vom Kult als Stolz, Überheblichkeit, Egoismus, mangelnde Demut, etc. negativ sanktioniert werden. Denn es gilt immer: „Die Ehre gebührt Jehova“.
Bei Misserfolg trägt man allerdings stets selbst die Schuld. Also internal, innerhalb meiner Selbst.
Nach der Zeit im Kult sind Aussteiger – ganz besonders dann, wenn sie dort aufgewachsen sind – leider auch immun gegenüber Lob von außen. Es entstand im Kult eine Art persönliche Firewall, die mögliches Lob konsequent abschirmt. (Sie haben ja auch schon früh gelernt, sich z.B. gegenüber Kritik von außen zu immunisieren).
Hineingeborene Aussteiger hören und registrieren das Lob (z.B. im Arbeitsbereich), komprimieren es in einer Art Zip-Datei; können diese allerdings dann (noch) nicht entpacken, um es für sich und ihr Leben fruchtbar zu machen. Grund dafür ist die erlernte Unfähigkeit, Selbstwert empfinden zu dürfen. Selbst – Selbstbewusstsein – Selbstwert – Selbstvertrauen – Selbstbestimmung – Selbstwirksamkeit – Selbstverantwortlichkeit.
WIR und ICH?
Obwohl es in vielen sog. Sekten heißt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, wurde der hintere Teil dieses Zitats von hineingeborenen Aussteigern nicht wirklich auch so verstanden oder verinnerlicht. Bei vielen dieser Aussteiger liegt eine deutliche ICH-Störung bzw. ICHSchwäche vor. Die Hineingeborenen müssen sich auf eine mühsame Reise vom einzigen WIR des Kults zum individuellen ICH aufmachen und sich gleichzeitig auf ein neues, viel größeres WIR, mit neuen Menschen und Möglichkeiten dieser Welt einlassen. Häufig ist diese Lebensphase anfangs mit Ängsten und Unsicherheiten verbunden. Aber die Reise lohnt!
© Dieter Rohmann (Nachtrag des Autors: Stand Oktober 2014 – In der Zwischenzeit ist der „Guru von Lonnerstadt“ inhaftiert und die Lehrerin der „12 Stämme“ wurde nun auch in Haft genommen.)